Mehr als die Hälfte der Polinnen und Polen ist gegen die Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Paaren - gleichzeitig wollen nur 29 Prozent die Zivilehe für alle. Eine Analyse der Gegensätze.
Wer die Situation der polnischen LGBT-Bewegung nur aus dem Blickwinkel der teils heftigen Auseinandersetzungen betrachtet, die sich etwa in den Jahren 2012-2015 um die mittlerweile abgebaute Regenbogen-Installation der Künstlerin Julita Wójcik auf dem zentralen Plac Zbawiciela in Warschau abspielten, kann vorschnell die falschen Schlüssen ziehen. Die Künstlerin hatte für ihr Projekt gerade jenes Symbol ausgewählt, das sowohl mit dem Bund zwischen Gott und den Menschen in der biblischen Geschichte Noahs als auch mit der LGBT-Bewegung assoziiert wird. Die Installation offenbarte sich im Lauf der Zeit als wertvoller Beitrag sozial engagierter Kunst, in dem sie gleichermaßen jene Kräfte sichtbar machte, die sich im Lande für und gegen die Anerkennung der Rechte von LGBT-Personen einsetzen.
Angesichts der unterschiedlichen Reaktionen auf die reale Lebenssituation von Menschen mit nicht-heterosexueller Orientierung in Polen wird deutlich, dass der unter seinen europäischen Nachbarn verbreitete Ruf Polens als kulturell relativ konservative Gesellschaft nur einen bestimmten Teil der politischen und gesellschaftlichen Situation im Land widerspiegelt. Einer jüngst veröffentlichten Umfrage im Auftrag des Vereins Miłość Nie Wyklucza (dt. Liebe grenzt nicht aus) zufolge ist sich eine Mehrheit der Polinnen und Polen (62 Prozent) durchaus der Tatsache bewusst, dass gleichgeschlechtliche Paare im Alltag in Bereichen wie Steuern, Gesundheit oder Sozialversicherung nicht dieselben Rechte genießen wie heterosexuelle Partner. Vor diesem Hintergrund findet sich in der Bevölkerung ein bedeutendes Maß an allgemeiner Unterstützung für Gleichberechtigung und die Institutionalisierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (55 Prozent)1.
Ein gemäßigt liberales Profil
Die Zustimmung für konkrete rechtliche Lösungen fällt dabei allerdings erwartungsgemäß umso niedriger aus, je näher ein Vorschlag an die Institution der Ehe reicht: Einen notarieller Vertrag befürworten 49 Prozent, die eingetragene Lebenspartnerschaft 37 Prozent, die Zivilehe 29 Prozent und die kirchliche Hochzeit 15 Prozent2. Diese Zahlen lassen durchaus den Schluss zu, dass die polnische Gesellschaft ein eher gemäßigt liberales Profil aufweist und ihren im politischen Wettbewerb um Stimmen konservativer Kreise kämpfenden politischen Vertreter/innen weit voraus ist.
Leider findet die geplante erste Lesung eines durch das Bündnis der Demokratischen Linken (pl. Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) bereits im Jahre 2013 eingebrachten Gesetzentwurfs zu eingetragenen Partnerschaften vor Ende der laufenden Legislaturperiode nicht mehr statt, weil diese nicht nur von der rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (pl. Prawo i Sprawiedliwość - PiS) bisher abgelehnt wurde, sondern auch die regierende Bürgerplattform (pol. Platforma Obywatelska – PO) in dieser Frage gespalten ist. Premierministerin Ewa Kopacz versprach daraufhin eine Regelung nach den anstehenden Wahlen am 25.10.2015.
Ein weiteres Indiz für die oftmals unterschätzte gesellschaftliche Offenheit des Landes ist auch die breite Unterstützung, die prominenten Personen wie etwa dem früheren LGBT-Aktivisten, Parlaments-Abgeordneten und heute auch international gefeierten Bürgermeister der nordpolnischen Stadt Słupsk, Robert Biedroń, entgegengebracht wird3. Biedroń nutzt seine Popularität, um auch politisch schwierige Themen wie den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten kritisch zu hinterfragen und eigene Akzente zu setzen4.
Die katholischen Kirche und ihr Familienbild
Ein analytischer Blick tut also gut. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wollen wir im Folgenden auf einige Aspekte verweisen, die ein differenziertes Verständnis der Problematik ermöglichen. Dabei soll in keiner Weise die Tragweite negativer Auswirkungen bestimmter gesellschaftlicher Vorurteile und politischer Hindernisse auf die fundamentalen Menschenrechte und die persönliche Lebenssituation von Menschen mit anderer sexueller Orientierung relativiert werden5.
Wie auch in anderen Ländern und Gesellschaften haben es offen homosexuell lebende Menschen auf dem Lande deutlich schwerer als in polnischen Großstädten, in denen es gut funktionierende LGBT-Gemeinschaften gibt. Hier begegnet man zwar auch, aber deutlich seltener Anhängern der Ansicht, dass Homosexualität eine (unter anderen durch Exorzismen oder sexuelle Abstinenz) heilbare Krankheit sei. Problematisch ist vor allem die physische und symbolische Gewalt am Rande von politischen Manifestationen wie dem rechtsradikalen Marsch anlässlich des Nationalfeiertags am 11. November.
Die Gründe für homophobe Aktionen sind vielfältig. Eine durchaus schwierige Rolle spielt das einseitig politisch engagierte Episkopat, das unter dem Stichwort „Gender-Ideologie“ seine Vision eines patriarchalischen, eindeutig heteronormativen und die volle Gleichstellung von Mann und Frau sowie Rechte für sexuelle Minderheiten ausschließenden Familienbildes verteidigt. Die Katholische Kirche hat dabei traditionell relativ großen öffentlichen Einfluss in dem Land mit einer zu 87 Prozent katholischen Gesellschaft, unter anderem weil sie in historisch schwierigen Epochen wie der Zeit der polnischen Teilungen (im 18. Und 19 Jahrhundert) und während des Kommunismus die nationale Einheit verkörperte.
Der Kult um männliche Helden
Auch die Geschichtspolitik trägt oftmals nicht zum Abbau traditioneller Vorstellungen von der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern bei, was sich zum Beispiel in der Kultivierung fast ausschließlich männlicher Helden zeigt6. Das Bewusstsein für die Verfolgung von Homosexuellen als eigene Opfergruppe während der NS-Besatzung steckt ebenfalls noch in den Anfängen7.
Wie auch in Deutschland und anderen Ländern ist der Sport ein schwieriges Feld, vor allem im Bereich der traditionellen Männeridealen huldigenden Fankultur im Fußball. Besonders extreme Vertreter der Hooligan-Szene werden durch den inoffiziellen Pakt mit der PiS, Teilen des Episkopats und der gegenwärtigen Führung der Gewerkschaft Solidarność, die diese mitunter als „die einzigen wahren Patrioten“ bezeichnen, noch weiter bestärkt. Die politisch gesehen am stärksten pro-LGBT argumentierenden polnischen Grünen und die Partei von Janusz Palikot Twój Ruch (dt. Deine Bewegung) stellen leider meist nur marginale Stimmen da. Wo homosexuelle Fangruppen wie zum Beispiel bei Legia Warszawa existieren, können sie sich oft nur virtuell artikulieren, weil sie ähnlich wie andere Gruppen dieser Art mit der offenen Androhung von Gewalt rechnen müssen.
Aber auch auf diesem Gebiet gibt es zunehmend Positivbeispiele – so unterstützt der in Polen und Deutschland gleichermaßen bekannte Boxer Dariusz Michalczewski mit seiner Stiftung Gleiche Chancen (pl. Równe Szanse) nicht nur die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus sozialen und wirtschaftlich benachteiligten Familien durch sportliche Aktivitäten, sondern ist auch ein aktiver „Verbündeter“ der LGBT-Szene. Für seinen offenen und medienwirksamen Einsatz für Vielfalt und Toleranz im Sport wurde er jüngst von der Kampagne gegen Homophobie als „Bündnispartner des Jahres“8 ausgezeichnet. Zugleich musste er sich für seinen Einsatz unter anderem von seinem jüngeren, bereits international erfolgreichen Boxerkollegen Artur Szpilka, der unter anderem in der Hip Hop-Szene viele Anhänger hat, als „Deutscher und Schwulen-Bewunderer“ beschimpfen lassen.
Erwähnenswert ist auch die Initiative des Krakauer Sportklubs „Krakersy“, der im März eine Konferenz der European Gay & Lesbian Sport Federation (EGLSF) zum Thema „Gender and Sexual Diversity in Sport“ ausrichtete, auf der mit Vertretern von Ministerien über konkrete Maßnahmen für mehr Toleranz und Gewaltfreiheit im Breitensport gesprochen wurde.
Initiativen gegen Hasssprache
Gespräche mit Betroffenen und Berichte verschiedener Menschenrechtsorganisationen zeigen, dass die größten Herausforderungen in Polen im Bereich Diskriminierung wegen sexueller Orientierung vor allem in zwei Bereichen zu suchen sind:
- einer allgemein in Polen weit verbreiteten, rechtlich und politisch nur unzureichend geahndeten Kultur der „Hasssprache“ und
- in diskriminierendem Verwaltungshandeln auf der Grundlage unzureichender gesetzlicher Regelungen.
Ersterem Problem versuchen Initiativen im Internet wie zum Beispiel hejtstop.pl oder die Gazeta Wyborcza, die linksliberal orientierte und auflagenstärkste überregionale Tageszeitung des Landes, beizukommen. Sie bieten die Möglichkeit, online oder offline vorgefundene Vorfälle von Hasssprache zu melden und auf diese gemeinsam – zum Beispiel durch kollektives Übermalen von beleidigenden Graffiti – zu reagieren.
Die Reichweite solcher Aktionen ist leider insofern begrenzt, als sie größtenteils nur bereits aufgeklärte Zielgruppen erreichen. Zudem muss das Bewusstsein und die Effektivität der für die Ahndung solcher verfassungs- und strafrechtlich relevanten Vorfälle zuständigen Organe trotz der unter Generalstaatanwalt Andrzej Seremet bereits steigenden Tendenz noch weiter wachsen. Vor diesem Hintergrund haben sowohl die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) des Europarats als auch Amnesty International in ihren jüngsten Berichten den polnischen Gesetzgeber dazu aufgefordert, durch weitere gesetzliche Maßnahmen die Gleichheit und Würde von LGBT-Personen in allen Lebensbereichen sicherzustellen9.
Sammelklagen gegen Standesämter
Die zweite Problematik äußert sich besonders an der praktischen Behinderung von gleichgeschlechtlichen Eheschließungen im Ausland durch polnische Standesämter. Diese lehnen die Ausstellung von Bescheinigungen über den Familienstand ab, wenn in die Rubrik zukünftiger Ehepartner ein Vorname des gleichen Geschlechts wie des Antragstellenden eingetragen wird. Der bereits erwähnte Verein Miłość nie wyklucza bereitet in dieser Frage Sammelklagen gegen den polnischen Staat vor, die nach der Ausschöpfung des Rechtsweges in Polen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschieden werden sollen.
Zudem weisen LGBT-Aktivisten wie Krystian Legierski mit Nachdruck darauf hin, dass Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten, die nach dortigem Recht in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben und gegebenenfalls eigene oder adoptierte Kinder haben, bei einer Arbeitsaufnahme in Polen gegenüber heterosexuellen EU-Bürgern benachteiligt sind, da der polnische Staat ihre Familiensituation nicht anerkennt. Unter diesem Gesichtspunkt sind Regelungen auf EU-Ebene wünschenswert, um eine volle Gleichstellung auf dem Gemeinsamen Binnenmarkt zu gewährleisten.
Außerdem muss erwähnt werden, dass weder die polnische Verfassung noch das vielfach als unzureichend kritisierte Gleichbehandlungsgesetz LGBT-Personen umfassend vor Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung schützen. Konkrete Rechtsbeihilfe innerhalb der staatlichen Strukturen leisten der Ombudsmann für Bürgerrechte (Dr. Adam Bodnar) und die Bevollmächtigte für Gleichberechtigung beim Ministerrat (Prof. Małgorzata Fuszara). Von Seiten der Zivilgesellschaft sind unter anderem die Helsinki-Stiftung für Menschenrechte und die Polnische Gesellschaft für Antidiskriminierungsrecht aktiv, die auch die Koalicja Na Rzecz Równych Szans (dt. Koalition für Gleiche Chancen)10 koordiniert.
Schutz durch Selbsthilfe
Eine wichtige Rolle unter den zivilgesellschaftlichen Initiativen spielen naturgemäß Selbsthilfe-organisationen der Szene, wie die Kampania Przeciw Homofobii (dt. Kampagne gegen Homophobie - KPH) oder Lambda. Diese leisten in erster Linie psychologische Hilfe, betreiben gesundheitliche Aufklärung und bieten rechtliche Beratung im Bereich Antidiskriminierung, treten aber auch öffentlichkeitswirksam durch Kampagnen, wie zum Beispiel die oben erwähnte Auszeichnung für Dariusz Michalczewski im Rahmen des Preises „Ramię w ramię po równość” (dt. Arm in Arm für die Gleichstellung), in Erscheinung.
Lambda betreibt seit einiger Zeit in Zusammenarbeit mit der Fundacja Trans-Fuzja (dt. Stiftung für Transgender-Personen) auch das erste Interventionshostel für LGBT (im Stil von Frauenhäusern) in Polen11. Hier können bis zu einem Dutzend von Gewalt betroffener Personen, denen in öffentlichen Einrichtungen von Personal und anderen Schutzsuchenden neue Gewalt drohen könnte, anonym Unterschlupf finden. In Kooperation mit einem Schulungszentrum der Polizei wird auch ein Schnellkurs zum Thema Antidiskriminierung für Polizisten durchgeführt, den bisher ca.3.000 Anwärter auf den Polizeidienst absolviert haben. Dieses Angebot wird derzeit auch auf die Lehrerbildung ausgeweitet.
Trans-Fusja kümmert sich seit Jahren um die Belange von und die Verbreitung von Wissen zu transsexuellen Personen. Ein von der ersten transsexuellen Abgeordneten Polens, Anna Grodzka, ins Parlament eingebrachtes und vor wenigen Tagen verabschiedetes Gesetz zur Änderung des Geschlechts wartet derzeit auf die Unterschrift des neuen Präsidenten Andrzej Duda (PiS), der bereits, sicherlich auch aus wahltaktischen Gründen, erhebliche Zweifel an diesem angemeldet hat. Ähnlich wie Robert Biedroń ist Anna Grodzka zwar alles andere als eine unumstrittene Politikerin, trifft aber wegen ihrer engagierten, sachlichen und für soziale Belange sensiblen Arbeit auch auf viel gesellschaftliche Zustimmung.
Wichtig für die Konsolidierung und Ausstrahlungswirkung der LGBT-Community und ihrer Unterstützer ist das polnische Äquivalent zum CSD, die jährlich im Juni stattfindende Parada Równości (dt. Parade der Gleichheit). Trotz teils brutaler Gegendemonstrationen feiern hier Tausende Menschen friedlich und farbenfroh die tolerante und offene Seite der polnischen Gesellschaft. Das personell eng mit Trans-Fusja und Parada Równości verbundene LGBT Business Forum kümmert sich um die Sensibilisierung von Unternehmen. Dies ist umso wichtiger, als im Gegensatz zu Westeuropa oder den USA, wo große Konzerne im Rahmen von Corporate Social Responsibility und Diversity Management gerne und sichtbar LGBT-Initiativen unterstützen, die Geschäftswelt in Polen bei diesem Thema sichtbar auf Distanz geht.
Auch die Arbeit des sehr beliebten Szene-Magazin replika, dessen 57. Ausgabe demnächst erscheint, muss unbedingt Erwähnung finden. Die Zeitschrift berichtet regelmäßig über die Lebenssituation von LGBT-Personen und Regenbogenfamilien in verschiedenen europäischen Ländern in Geschichte und Gegenwart. Zudem engagiert es sich besonders beim Gewinnen von Bündnispartnern und hat so eine wichtige Ausstrahlungswirkung über die Szene hinaus.
Schwache finanzielle Unterstützung
Eine der größten Schwachpunkte des Kampfes gegen Homophobie in Polen ist deren nur geringe finanzielle Ausstattung. Viele Aktivitäten werden weitestgehend aus ausländischen Fonds wie den derzeit von der Stefan-Batory-Stiftung verwalteten Norway Funds und mithilfe „befreundeter“ Botschaften (zum Beispiel der Niederlande oder Neuseeland) durchgeführt. Leider ist die Bereitschaft zu konkreter finanzieller Unterstützung aus der eigenen Community im Vergleich zu Deutschland weiterhin nur schwach ausgeprägt. LGBT-Aktivistinnen und Aktivsten erklären dies mit einer gewissen Scham der Betroffenen, die einen offensiven, politischen Umgang mit ihrer Situation als Hindernis für das Ausleben ihrer Freiheit empfänden.
Die Heinrich-Böll-Stiftung unterhält mit den meisten der genannten Organisationen partnerschaftliche Beziehungen. Seit Beginn unserer Tätigkeit in Polen vor mehr als dreizehn Jahren begleiten wir den gesellschaftlichen Wandel und setzen uns für gleiche Rechte und Chancen aller Individuen unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Weltanschauung, Behinderung, sexueller Orientierung etc. ein.
Im Verhältnis zwischen Bürgern und Staat setzen wir auf gut funktionierende öffentliche Institutionen, die Stärkung der Partizipation und eine demokratische Kultur.
Dabei betonen wir bei der Unterstützung für die LGBT-Community besonders den menschenrechtlichen Aspekt und bemühen uns um den Einbezug deutsch-polnischer Perspektiven. So luden wir zum Beispiel anlässlich der diesjährigen Parada Równości MdB Beate Walther-Rosenheimer, die Sprecherin für Jugendpolitik und Ausbildung von Bündnis 90/Die Grünen, zu einer Diskussion mit Vertreterinnen und Vertretern der LGBT-Szene über Aspekte der Antidiskriminierungserziehung in Polen und Deutschland ein. Auf der Veranstaltung wurde deutlich, wie komplex die gesellschaftliche Entwicklung gerade in diesem Feld ist und das stereotype Zuordnungen (fortschrittliches Deutschland/rückständiges Polen) irreführend sind.
Schulen gegen Diskriminierung
Besondere Aufmerksamkeit im Bereich Antidiskriminierungserziehung verdient auch die Initiative zur Einführung von schulischen Gleichbehandlungskodexen der Fundacja Forum na rzecz Różnorodności Społecznej (dt. Stiftung Forum für Soziale Vielfalt). Diese beruht auf der Aufstellung eines internen Gleichbehandlungsregelwerks für die gesamte Schulgemeinschaft. Deren Ziel ist die Stärkung der innerschulischen Demokratie und des Verantwortungsgefühl der Schülerinnen und Schüler für ihr eigenes Umfeld, wodurch das Entstehen menschenrechtlicher Überzeugungen auf Grundlage praktischer Erfahrungen gefördert wird.
Die auf diesem Feld tätigen NGO konzentrieren sich vor allem auf die vorsichtige Öffnung der polnischen Schule, in der eine traditionelle, hierarchische und hermetische Pädagogik noch relativ weit verbreitet ist. Zwar gibt es seit dem Jahr 2013 auf Basis einer Verordnung des Ministeriums für Nationale Bildung eine Verpflichtung der Schulen zur aktiven Durchführung von Antidiskriminierungsbildung innerhalb des Lehrplans12, deren Bedeutung die amtierende Bildungsministerin Joanna Kluzik-Rostkowska auf Drängen zivilgesellschaftlicher Organisationen mehrmals öffentlich unterstrichen hat. Dennoch lässt die Qualität von konkreten Maßnahmen oftmals noch sehr zu wünschen übrig, wie eine großangelegte Untersuchung der Gesellschaft für Antidiskriminierungserziehung (pl. Towarzystwo Edukacji Antydyskryminacyjnej – TEA) aufzeigte.
Allerdings ist aus dieser auch abzulesen, dass sexuelle Orientierung nur einer unter mehreren Gründen für Diskriminierung in der Schule ist – hier werden vor allem soziale Ungleichheiten genannt13. Die praktische Erfahrung von professionell und ehrenamtlich in diesem Bereich Engagierten lehrt, wie sehr die praktische Situation in einer Schule vom konkreten Umfeld (Schulleitung, Kollegium, Schülerinnen und Schüler, Elternschaft) abhängt. Sinnvoll sind daher besonders Initiativen, die der Schulgemeinschaft Begegnungen mit Betroffenen ermöglichen, wie sie zum Beispiel durch den Verein AKCEPTACJA (dt. Akzeptanz) für und von Eltern mit LGBT-Kindern organisiert werden.
Erfreulich ist, dass sich in letzter Zeit die Beispiele für erfolgreiche Koalitionsbildungen („LGBT-Solidarität mit allen Ausgegrenzten“) über die Milieus von diskriminierten und benachteiligten Minderheiten hinweg mehren. So setzt man sich auf der Parada Równości auch für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen ein und der politisch schlagkräftige, mehrheitlich liberal-feministisch ausgerichtete Frauenkongress hat sich nicht nur das Thema Mutterschaft, sondern nach langer interner Überzeugungsarbeit auch LGBT-Rechte auf die Fahnen geschrieben. Diese trotz allen Herausforderungen doch positive Entwicklung wird sich sicherlich auch unter den sich gegebenenfalls wandelnden, schwierigeren politischen Rahmenbedingungen nach den unmittelbar bevorstehenden Parlamentswahlen fortsetzen.
Dieser Artikel erschien zuerst in leicht veränderter Form im "Newsletter für Engagement und Partizipation in Europa" der BBE- Europa-Nachrichten.
Quellen:
[1] Vgl. die Infographiken auf http://miloscniewyklucza.pl/badania.html [Verein Miłość nie Wyklucza, eingesehen 17.09.2015] und einen Artikel in Newsweek unter http://polska.newsweek.pl/kto-popiera-zwiazki-homoseksualne-czy-beda-moz... [Newsweek Polen, eingesehen 17.09.2015]. Bemerkenswert ist dabei, dass auch eine nicht zu unterschätzende Minderheit unter PiS-Anhängern (31%, i.V.z. PO-Anhängern 42%) solche Regelungen unterstützen würde.
[2] Ebd. Auffällig ist allerdings auch, dass diese Zustimmung niedriger liegt als bei anderen umkämpften Schlüsselthemen wie der Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (69%) und der öffentlichen Finanzierung der In-Vitro-Methode (61%) (vgl. eine Umfrage aus dem März diesen Jahres: http://wiadomosci.onet.pl/kraj/sondaz-nt-konwencji-antyprzemocowej-i-in-... [Onet.pl, eingesehen 21.09.2015]).
[3] Vgl. etwa die Beiträge im SPIEGEL (http://www.spiegel.de/politik/ausland/polen-schwuler-robert-biedron-gewi... eingesehen 21.09.2015) und der NEW YORK TIMES (http://www.nytimes.com/2014/12/03/world/europe/a-gay-mayor-in-poland-no-... eingesehen 21.09.2015).
[4] Vgl. das kurze Video-Interview mit ihm auf Dziennik.pl (http://wiadomosci.dziennik.pl/wydarzenia/artykuly/ 500822,robert-biedron-samorzady-sa-gotowe-na-przybycie-uchodzcow-wideo.html, eingesehen 21.09.2015).
[5]Ein Hinweis darauf ist Platz 51 im internationalen Gay Happiness Index, noch nach dem ostafrikanischen Dschibuti (vgl. https://www.planetromeo.com/lgbt/gay-happiness-index/ [Online Gay Community Planet Romeo, eingesehen 17.09.2015]).
[6] Versuche der kritischen Hinterfragung des geltenden Paradigmas – zum Beispiel durch eine Publikation zu Geschlechterbildern des Warschauer Aufstands (vgl. Weronika Grzebalska (2014): Płeć Powstania Warszawskiego, Warszawa) oder den Film „Solidarność według kobiet“ (dt. Die Frauen der Solidarność – Deutschlandpremiere im November 2015) – treffen demgegenüber häufig auf ablehnende Reaktionen.
[7] Vgl. etwa das Interview mit Joanna Ostrowska zur Verfolgung von Homosexuellen im 3. Reich („Różowe trójkąty”, in Replika Nr. 55/2015, S. 4-8; online unter: http://pl.boell.org/pl/2015/08/26/rozowe-trojkaty-historia-homoseksualny... [Heinrich-Böll-Stiftung Warschau, eingesehen 17.09.2015]). Auch deswegen denken LGBT-Aktivistinnen und Aktivisten derzeit über die Ausschreibung von Wettbewerben für Nachwuchswissenschaftler nach, damit diese frühzeitig entsprechende Themen aufgreifen können, die für die universitäre Karriere im Moment wenig vielversprechend erscheinen.
[8] Siehe http://kph.org.pl/dariusz-michalczewski-laureatem-nagrody-sojusznik-roku/ [Webseite der Kampagne gegen Homophobie, eingesehen 17.09.2015].
[9] Vgl. Council of Europe (2015): ECRI Report for Poland (fifth monitoring cycle), Strasbourg, S. 33 (https://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/Country-by-country/Poland/POL... [Webseite des Europarats, eingesehen 17.09.2015]); Amnesty International (2015): Dotknięci przez nienawiść, zapomniani przez prawo. Brak spójnego systemu zwalczania przestępstw z nienawiści w polsce (dt. Von Hass betroffen, vom Recht vergessen. Zum Fehlen eines kohärenten Systems zur Bekämpfung von Hasskriminalität), London. (http://amnesty.org.pl/uploads/media/hate_crimes_report_-_POLISH_-_WEB.pdf; [Webseite von Amnesty International, eingesehen 21.09.2015]).
[10] Vgl. http://www.ptpa.org.pl/koalicja [Webseite der Polnischen Gesellschaft für Antidiskriminierungsrecht, eingesehen 17.09.2015].
[11] Vgl. http://www.lambdawarszawa.org/hostel [Webseite von Lambda, eingesehen 17.09.2015].
[12] Vgl. Gbl. Jg. 2013, Pos. 560.
[13] Vgl. Towarzystwo Edukacji Antydyskryminacyjnej (2015): Dyskryminacja w szkole – obecność nieusprawiedliwiona. O budowaniu edukacji antydyskryminacyjnej w systemie edukacji formalnej w Polsce. Raport z badań, Warszawa.